Nein, liebe Musikerkollegen, ich meine nicht unsere Noten, nach denen wir musizieren (wobei es natürlich auch da wunderbare Ansätze gibt, dass die Notation ja unnatürlich ist und echte Musik von innen kommt und so. Aber das ist schon wieder ein anderes Thema). Ich meine die Schulnoten. Die müssen weg. Denn sie zerstören die Lernmotivation, sagt Olaf-Axel Burow und dieser Artikel wandert seit Tagen durchs Twitteruniversum.
Burow behauptet in seinem Interview nicht nur, Lernen und Schule wie sie heute ist, seien Gegensätze,
[quote]Das Gehirn ist eine „Lustmaschine“. Insofern müsste die Schule eine „Lustanstalt“ sein. Für viele ist sie aber eine Frustanstalt.[/quote]er nutzt sogar die Todesmetapher, indem er behauptet
[quote]Nur Schüler, die einen guten Bildungshintergrund haben, überleben das System.[/quote]Ich frage mich, ob das denn wirklich stimmt? Müssen die Noten weg, damit alles gut wird? Und da ich mich ja gerade sowieso unbeliebt mache im Twitterversum, mache ich einfach einmal weiter mit meinen Gedanken:
Eine Powerpointpräsentation von Bernhard Jacobs von der Universität des Saarlandes dokumentiert einen einfachen Versuch: Studenten sollten ein Quiz ausfüllen – einmal mit „Notendruck“, einmal ohne. Das Ergebnis: Als es um Noten ging, waren die Leistungen der Studierenden besser, weil es „um etwas ging“. Gleichzeitig fühlten sich einige Studierende aber auch mehr unter Druck gesetzt. Eine Zwickmühle also. Die extrinsische Motivation erhöht die Leistung, gleichzeitig entsteht ganz offensichtlich eine Art „Leidensdruck“.
Prof Dr. Dr. Werner Wiater vom Fachbereich Schulpädagogik der Universität Augsburg ist der Meinung, nicht die Noten an sich seien schlecht, höchstens unser Umgang mit ihnen. Im verlinkten Interview sagt er über eine Schule ohne Noten:
[quote]Natürlich können Sie eine Schule konzipieren, die auf alle Bewertungen verzichtet. Sie können jedem Kind einen nett formulierten Abschluss geben. Aber was passiert dann? Dann werden die Institutionen, auf die die Schule eigentlich im Bereich Leistungserziehung vorbereiten soll, ihre eigenen Aufnahmeprüfungen machen.[/quote]Genau hier setzen auch meine Bedenken an: Natürlich kann ich mir theoretisch vorstellen, dass wir eine Schule ohne Noten einführen. Aber wie sähe dann schlussendlich das Ergebnis dieser Schule aus? Wann und durch welches Kriterium würde bestimmt, wann ein Kind „fertig“ ist mit der Schule? Gäbe es in einer notenlosen Schule einfach eine Mindest- und eine Höchstverweildauer und sobald diese abgeschlossen ist, geht das Kind in die Welt hinaus? Was hätte es an der Hand? Ein Textzeugnis womöglich, das von Schule zu Schule unterschiedlich wäre (denn wenn es (landes- oder bundesweit?) definierte Satzbausteine gäbe, hätte man ja quasi wieder Noten eingeführt, weil Schüler und Eltern danach streben würden, die beste Formulierung (welche wäre das?) zu erhalten.
Wie würde ein potentieller Arbeitgeber entscheiden, welchen Bewerber er einstellt, wenn nicht ersichtlich wäre, ob Peter Müller genügend Mathe kann für den angestrebten Beruf?
Sabine Czerny, die wahrscheinlich größte Verfechterin eines Schulsystems ohne Noten, sagt in einem Interview mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, was Ihrer Meinung nach passieren würde, schafften man Noten ab:
[quote]Wie lebendig dann Unterricht und Schule organisiert werden könnten! Wie viel Raum dann für individuelle Interessen da wäre! Unsere Kinder würden erleben, dass einerseits die Unterschiede gar nicht so groß sind, sondern hauptsächlich zeitlich bedingt sind, und andererseits, dass Verschiedenartigkeit nicht problematisch und schwierig ist, sondern eine Bereicherung durch Vielfalt darstellt.[/quote]Ich finde, das hört sich ganz wunderbar an, es hat nur wahrscheinlich mit der Realität nichts zu tun sondern ist deshalb so wunderbar und schön, weil es eine Utopie beschreibt.
Stelle ich mir vor, wie das bei mir gewesen wäre, dann hätte ich – geleitet von meinen individuellen Interessen – Musik gemacht, Biologie gelernt (aber nur die mit den Fischen ;-)) und am C64 rumgelötet. Ich hätte mich wahrscheinlich nicht für Rechtschreibung und Zeichensetzung, für Mathematik und Kunst interessiert. Wäre es mir damit besser ergangen als mit einem Schulsystem, das mir eine breite Palette an Fächern „zugemutet“ hat, so dass ich „gezwungen“ war, herauszufinden, ob mich Chemie mehr interessiert als Biologie? Ich finde: Nein. Die Schule hat mir gezeigt, dass ich in Bio, Englisch, Musik etc. besser bin als in Chemie und Sport. Diese Erkenntnis hat mich nicht umgehauen. Sie hat mir vielmehr gezeigt, wohin mein Lebensweg gehen könnte. Bereut habe ich das bisher nicht. Genauso wie ich nicht bereut habe, den Dreisatz gelernt zu haben. Und mein „mangelhaft“ unter der Deutscharbeit zum Thema Gedichtanalyse hat mir lediglich sehr deutlich vor Augen geführt, dass ich mich mit Jambus und Trochäus und Anapäst noch einmal auseinandersetzen muss. Ob diese Episode in meinem Leben unmittelbar Einfluss darauf hatte, dass ich später „Romanticism and its poetry“ als eines meiner Examensthemen im 1. Staatsexamen hatte? Weiß ich nicht.
Was also tun? Noten abschaffen? Schüler einfach lernen lassen? Irgendwie? Ohne Ziel? Oder vielleicht doch weiter Noten geben – aber den Umgang mit ihnen verändern? Ich sage meinen Schülern immer: Am liebsten schreibe ich gut oder sehr gut unter eine Arbeit – und das nicht nur, weil ich dann bei dieser Arbeit wenig zu korrigieren hatte.
Der bereits oben zitierte Werner Wiater sagt in seinem Interview weiter:
[quote]Entscheidend ist die Grundeinstellung, mit der ich als Lehrer meinen Schülern begegne. Mein Interesse als Lehrer muss es sein, dass dem Schüler die Leistung gelingt. Ich will dem Schüler behilflich sein, dass er den Lernanforderungen genügen kann. Der Schüler muss das auch merken. Wenn dies gegeben ist, dann kann ich auch dem Schüler sagen: Da hat es nicht gepasst. Entscheidend ist, dass der Lehrer nicht richtet, sondern sich auch didaktisch um die bestmögliche Vorbereitung der Leistungsüberprüfungen bemüht […][/quote]Ich bin davon überzeugt, dass Wiater hier den Finger in die richtige Wunde legt: Wenn Kolleginnen und Kollegen selber schlechte Noten als Bestrafung ansehen (und das scheint mir, ihr erlaubt mir die Randbemerkung, bei vielen „Notenkritikern“ der Fall zu sein), dann sollte man die Notengebung wirklich sofort abschaffen.
Solange Benotung aber bedeutet: „Schau her, Gedichtanalyse kannst Du wirklich (noch) nicht – probier’s doch noch einmal mit diesem Übungsblatt…“ oder „Schau her, Gedichtanalyse liegt Dir nicht, dafür bist Du wirklich fit in der Analyse politischer Reden“ oder eben auch: „Mensch, Klasse, Deine Liedanalyse hat absolut Hand und Fuß, das kannst Du Dir auch zutrauen ins mündliche Abitur zu nehmen“, so lange und unter diesen Umständen kann ich weiterhin nichts Negatives an Notengebung finden.
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Also ich kann aus persönlicher Sicht sagen, dass ich mich kaum für die Schulinhalte interessiert habe. Ich hatte eher Probleme mit dem Stoff, weil er so uninteressant präsentiert wurde. Aber ich wusste auch nicht, wo ich überhaupt hin wollte.
Ich würde mir viel mehr Wünschen, dass den Schüler direkt geholfen wird. Dies kann nur passieren, wenn man mit den Schülern konkret ihre Ziele bespricht. Es ist so viel leichter, wenn man einen klaren Berufswunsch hat auf den man hinarbeiten kann. Stattdessen werden von Bildungsministern oder sonst welchen Leuten bestimmt, welche Kenntnisse gelehrt werden sollen. Für die ersten 4 Schuljahre sollte natürlich die Rechtschreibung und die Mathematik und die restlichen „Grundkenntnisse“ (wobei diese noch definiert werden müssen) gelehrt werden. Danach… Gedichtanalyse, Geometrie oder sonstiges werden gelehrt, die meist vom eigentlichen Berufswunsch so abweichen, dass man sich fragt, warum man überhaupt zur Schule geht und man kann als Schüler nicht mal was dagegen unternehmen. Dazu haben die Inhalte nicht mal was mit der beruflichen Realität zutun. Es wird der Fehler gemacht, dass man denkt, dass man einem Kind eine gesunde Allgemeinbildung mitgeben möchte, damit er später für sich selbst entscheiden kann, was er macht. Aber bei Sozial schwächeren führt das eher dazu, dass sie „keinen Bock“ haben, irgendwie zu arbeiten, weil sie halt für sich keine/kein Zukunft/Ziel sehen.
Es ist dann auch nicht mehr verwunderlich, dass die Eltern Ihre Kindern in Private Schulen stecken, um diesen eine Richtung vorzugeben. Dabei sollte es anders herum sein. Die Kindern/Jugendlichen sollten entscheiden, in welche Sparte sie wollen und Sie müssen dann beraten werden, was sie alles brauchen, um dorthin zu kommen. Dabei darf man niemals vergessen, dass der Berufswunsch sich halt immer wieder mal ändert, weil man neue Einsichten gewonnen hat. Die Berufsberatung müsste also theoretisch ab dem Schulbeginn greifen. Derzeit Schwimme ich wie viele andere Menschen noch Tod im Wasser herum. Zwar bin ich selbstständig, aber ich habe nicht das Gefühl, dass ich weiß, wohin ich will, da mir auch nicht viele Möglichkeiten aufgezeigt worden. Wenn man sich die erfolgreichen Menschen anschaut, dann fällt auf, dass diese Menschen einen Traum hatten, den sie aufgeschnappt oder kurzzeitig gelebt haben und dann nacheifern. Und genau für sowas sollte eine Schule da sein. Intrinische Motivation muss her nicht die Extrinische.
Die Noten spielen dann nur noch die Rolle, die sie eigentlich haben. Eine Nachweis, ob man entsprechende Fähigkeiten erworben hat. Der Notenvergleich mit Schülern unter sich würde ebenfalls wegfallen, weil diese selbst Wissen, was sie brauchen und ob die derzeitige Note reicht oder nicht. Sie könnten so selbstbewusster reagieren und sogar werden. Einzige Problem, wenn die Schüler ihren Berufswunsch wechseln und dann doch in einem Fach bessern sein müssen, als sie derzeit sind.
Das Schulsystem sollte „ähnlich“ der Uni sein, (ab der 5ten Klasse) dann im Uni-System lernen. Und dabei sollte man den Jugendliche das Recht einräumen, einen Fehler zu machen, indem man ihm frei bestimmen lässt, ob sie in den jeweiligen Kursen gehen oder nicht. Sie merken früher oder später, sofern man sie regelmäßig berät, dass sie einen falschen Weg eingeschlagen haben und kann sie so wieder auf Kurs bringen. Durch solche Erfahrung sind sie meist dann noch motivierter ihre Ziele zu erreichen (mögliches Szenario | andernfalls die Probleme analysieren und versuchen gemeinsam zu lösen).
Naja sind jetzt ein paar meiner Gedanken. Fehlt zwar noch ein großer Teil, aber ich will kein Roman schreiben.
Gruß
Kunai K.
Die Idee, die Du bezüglich eines „neuen Schulsystems“ hast, hat interessante Ansätze, allerdings denke ich, dass die Grundvoraussetzung, die Du implizit für Deinen Entwurf brauchst, eben ist, dass Schüler wissen, wohin sie wollen. Ich mache allerdings die Erfahrung, dass selbst Abiturienten jetzt, kurz vor dem Ende ihrer Schulzeit, keine Idee haben, was sie machen wollen.
Wie würdest Du so etwas auffangen? Was sollten solche Jugendliche machen, die überhaupt nicht wissen, was später einmal aus ihnen werden soll?
Oder was machst Du aus jemandem wie mir, dem immer klar war: „Ich möchte später Musik unterrichten“, dem aber nicht klar war, was er als zweites Fach studieren soll? Ich wäre gerne Biolehrer geworden, leider konnte man an den Unis, an denen man Musik für Sek II studieren konnte nicht Bio für Sek II studieren – und umgekehrt. Also musste ich mich umentscheiden und habe mich dann für Englisch entschieden. Hättest Du mir in der 12 gesagt „Du wirst mal Englischlehrer“, hätte ich Dich wahrscheinlich ausgelacht (obwohl ich Englisch Leistungskurs hatte).
Ich glaube, gerade weil viele Schüler erst sehr spät wissen, in welche berufliche Richtung sie später einmal gehen wollen, ist es wichtig, ein möglichst breites Angebot in der Schule zu haben – nur wenn ich Bio, Mathe, Physik, Erdkunde, Reli, Spanisch, Französisch, Musik, Kunst, Sport, Deutsch, Englisch, Werken, Chemie, etc. gehabt habe, kann ich entscheiden „Diese Richtung ist was für mich, diese Richtung ist nichts für mich.“
Aber ich finde, man sollte wenigstens überall einmal hineingeschnuppert haben.
Dazu kommt, dass ich Dir zwar zustimme, dass es hochgradig sinnvoll wäre, jeden einzelnen Schüler mit seinen ihm eigenen Interessen wahrzunehmen und darauf einzugehen. Logistisch ist das aber eigentlich kaum zu stemmen – in meiner Schule unterrichten 80 Kollegen 1400 Schüler. Wie soll bei einem solchen Schlüssel von 1 zu 18 gewährleistet werden, dass jeder Schüler individuell betreut wird? Ganz davon abgesehen dass ich mich dafür überhaupt nicht fit fühlen würde, weil ich von den allermeisten Berufen keine Ahnung habe – ich hab Ahnung davon, wie es ist ein Lehrer zu sein. Aber wie es ist ein Schreiner, Tischler oder Meeresbiologe zu sein, das weiß ich nicht.