Sitzenbleiben abschaffen!?
[Dieser Artikel war ursprünglich als Kommentar zu Frau Wehs Blogeintrag Sitzenbleiben gedacht, wurde dann aber so lang, dass es mir sinnvoller erschien, daraus einen eigenen Blogbeitrag zu machen.]
Das Thema „Sitzenbleiben“ oder eben „nicht mehr Sitzenbleiben“ ist derzeit in aller Munde. Eine Auswahl an Artikeln zum Thema:
Der allzu menschliche Ansatz, keinem Kind das Sitzenbleiben „zuzumuten“, ist natürlich ehrenhaft. Und wenn das Abschaffen des Sitzenbleibens dann auch noch Geld spart, na dann ist doch alles gut. Wir wollen ja niemandem weh tun, nicht wahr? Und Geld einsparen ist doch immer eine gute Sache. Doch so einfach ist die Gesamtlage meiner Meinung nach dann doch nicht:
Es ist ja mitnichten so, dass SuS sitzen bleiben, die in Mathe und Deutsch 5, sonst aber überall zwei und eins stehen. Solche Schüler könnten vielleicht wirklich mit Förderkursen punktuelle Defizite aufarbeiten (wobei da zu klären wäre, wer die macht, wann und wo die stattfinden und wer die bezahlt, die die machen. Das kostet dann nämlich auch Zeit. Und Lehrerstellen. Und damit wieder Geld ;-)), wie es die Piraten in NRW zum Beispiel mit Ihrem System der fließenden Schullaufbahn überlegen. (Und ich bin WAHRLICH kein Freund der Piraten. Ganz im Gegenteil. Aber das wisst ihr ja.)

Natürlich stellt sich aber auch bei der fließenden Schulbahn der Piraten die Frage: Was macht eigentlich der Schüler, der 8 von 10 Kursen abgeschlossen hat, aber das Ziel der Kurse 9 und 10 einfach nicht erreicht? Doch noch gibt es die fließende Schullaufbahn nicht, bleiben wir also in der Realität:

(Der folgende Abschnitt war im Originalartikel missverständlich formuliert. Ich hoffe, dass ich das nun deutlicher gemacht habe:) In der Realität bleiben am Gymnasium (in NRW, in anderen Bundesländern mag das anders aussehen) Schüler sitzen, die entweder in zwei Nebenfächern eine 5 und für keines der Fächer einen Ausgleich (=mindestens 3) haben.  Oder man hat eine 5 im Hauptfach und in keinem anderen Hauptfach einen Ausgleich (=mindestens 3). De facto steht man also beispielsweise in Deutsch 5 und in Englisch, Französisch und Mathe dann auch nur 4. Oder man steht in Physik und Politik 5 und kann keine der 5en mit einer Leistung im 3er Bereich im entsprechenden Fächerbereich ausgleichen. Siehe dazu die APO SI, besonders Paragraph 26 (ich unterrichte am Gymnasium). In beiden Fällen ist klar: Neben der 5 stehen immer auch Leistungen nur im 4er Bereich in anderen Fächern, wenn es zum Sitzenbleiben kommt.
[titled_box title=“Versetzungsbestimmungen NRW“ variation=“green“]Eine Schülerin oder ein Schüler wird auch dann in die Klassen 7 bis 9 und in die Einführungsphase der gymnasialen Oberstufe versetzt, wenn die Leistungen
a) in nicht mehr als einem der Fächer Deutsch, Mathematik, erste und zweite Fremdsprache mangelhaft sind und die mangelhafte Leistung durch eine mindestens befriedigende Leistung in einem anderen Fach dieser Fächergruppe ausgeglichen wird oder
b) in nicht mehr als einem der übrigen Fächer nicht ausreichend sind oder
c) zwar in zwei der übrigen Fächer nicht ausreichend, darunter in einem Fach mangelhaft sind, aber dies durch eine mindestens befriedigende Leistung in einem Fach ausgeglichen wird.[/titled_box]

 

Den sitzenbleibenden Schüler mit lediglich punktuellen Defiziten, die höchstwahrscheinlich in Förderkursen ausgeglichen werden könnten und ansonsten durchweg guten Leistungen gibt es so in dieser Form also gar nicht. Er gehört ins Reich der Legende. Zwar gibt es Schüler mit punktuellen Schwächen (die so genannnte „Zementfünf“ in Fach X), aber damit bleibt man ja eben gar nicht sitzen.
Sehr wohl gibt es aber, neben Einzelfällen (lange Krankheit, persönliche Schicksalsschläge), die den normalen Lernfluss ins Stocken bringen und die Wiederholung eines Schuljahres bedingen, den an seiner Schulform völlig überforderten Schüler, der eigentlich glücklicher wäre, wenn er kein Abi machen müsste, der aber auf Teufel-komm-raus zum Abi durchgeschleust werden soll. Weil der Elternwille beim Schulwechsel so viel mehr zählt als die Einschätzung der Lehrer, die das Kind zwar vier Jahre beim Lernen in Klassenstrukturen begleitet haben, die aber eigentlich sowieso alle nichts können und Schülern grundsätzlich zunächst einmal bös wollen. Und weil wir gesellschaftlich soweit gekommen sind, dass wir einen Hauptschulabschluss nicht mehr als „gültigen“ Abschluss anerkennen, sondern als Strafe. Weil wir auch für Handwerker inzwischen das Abitur einfordern.

Also bekommt jeder jetzt ein Abitur: Zwar mit verkürzter Lernzeit durch G8 (wobei, an den Gesamtschulen hat es ja mehr Zeit. Ob die hohen Anmeldezahlen dort auch damit zu tun haben könnten? Oder liegt es tatsächlich nur am Wunsch nach gemeinsamem Lernen von Schülern unterschiedlicher Leistungsstärken?), dafür aber mit Förderkusen am Gymnasium in den Hauptfächern schon ab der Klasse 5.

Mit Eltern, die, damit der Sprössling das Abi auch schafft, selbst schon überfordert sind mit der Hilfe, die sie ihm angedeihen lassen müssen, mit Klassenarbeitsbewertungsrastern, die schwerlich eine schlechtere Note als 4 ermöglichen.
Und natürlich mit Lernstandserhebungen, die im Fach Englisch eine Antwort auch dann als richtig anerkennen, wenn trotz orthografischer und grammatischer Fehler erkennbar ist, was gemeint gewesen ist:

 

[quote]Herr Dorok, Sie haben beim Einparken zwar die beiden nebenstehenden Autos touchiert und stehen nur halb in der Lücke, aber es war erkennbar, dass Sie einparken wollten und nur um die Einparkkompetenz, nicht jedoch um die Auto-Nicht-Berühr-Kompetenz ging es uns heute – hier ist Ihr Führerschein![/quote]

Demnächst funktioniert Schule dann auch ohne die Gefahr des Sitzenbleibens und ganz bald sicher auch mit garantierter Mindestabschlussnote von 1,2 oder besser.

Schade, dass wir unser Bildungssystem durch falsch verstandenes Gutmenschentum stetig und ständig weiter in den Schlamm fahren, anstatt darüber nachzudenken, was wir eigentlich unter Bildung verstehen. Müssen wirklich dreiviertel aller jungen Menschen eines Jahrgangs eine allgemeine Hochschulreife ablegen? Sind Grundschulen dann besser, wenn sie möglichst viele Gymnasialempfehlungen aussprechen?

Warum tun wir denn so, als ob jedes Kind ein intellektueller Überflieger wäre oder sein müsste? Warum wollen wir nicht (mehr?) akzeptieren, dass es Menschen gibt, die handwerklich begabt sind (ich kann kein Haus bauen und bin sehr froh, dass das Menschen für mich übernommen haben) und Menschen, die sich in Fachbücher vertiefen und in Fachdiskussionen verstricken können?

Per Definition ist das Abitur der höchste in Deutschland zu erreichende Schulabschluss. Kann es wirklich sein, dass 75 oder mehr Prozent eines (Schüler-) Jahrgangs das Zeug dazu haben, diesen höchsten Schulabschluss zu erlangen? Wäre es nicht sinnvoller, dafür zu sorgen, dass Haupt- und Realschulabschlüsse gestärkt werden, dass die entsprechenden Abschlüsse wieder zu entsprechenden Lehr- und Ausbildungsverträgen führen und dass unsere Gesellschaft endlich sagt: Wir brauchen Müllmänner. Und Schreiner. Und Maler. Und Verkäufer. Und Straßenkehrer. Und Hausmeister. Und, und, und. Und all diese Menschen brauchen kein Abitur. Deshalb müssen wir auch nicht jeden zum Abitur hinfördern. Deshalb brauchen wir GUTE Hauptschulen und GUTE Realschulen. Dann werden wir auch wieder Gymnasien haben, die nicht vor lauter Förderangeboten den ganz normalen Unterricht aus den Augen verlieren. Und Eltern, die nachmittags mit ihren Kindern etwas unternehmen können, anstatt sie in Englisch, Deutsch und Mathe privat (über-?)fördern zu müssen…
[Übrigens: In den 70ern lag die Sitzenbleiberquote noch bei 7%, 2007 waren es nur noch 3%, im letzten Jahr nur noch 1,5%. Wir schaffen das Sitzenbleiben schon längst ab. Wir haben es bloß noch nicht gemerkt. Die Durchfallquote bei der Führerscheinprüfung liegt bei ca. 25%. Was machen wir da? Sollten wir zusätzliche Förderkurse einrichten? Oder einfach jedem den Führerschein geben und Wiederholungskurse abschaffen? Ich bin unsicher…]

Nachtrag:

Diesen Blogartikel hätte ich mir sparen können. Harald Martenstein hat im Tagesspiegel bereits alle wichtigen Fragen gefragt.

Sitzenbleiben abschaffen!?
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36 Kommentare zu „Sitzenbleiben abschaffen!?

  • Pingback:Sitzenbleiben Teil 2 | kuschelpaedagogik

  • 28. Februar 2013 um 20:15 Uhr
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    Wir lassen manchmal SchülerInnen sitzen oder überreden sie zum freiwilligen Wiederholen. Vor allem, wenn wir (mit den Eltern) der Meinung sind, dass das Kind noch noch nicht ausbildungsreif ist und ihm/ihr ein zusätzliches Jahr sehr gut täte.

  • 28. Februar 2013 um 21:21 Uhr
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    Hallo,

    in Hessen ist das mit dem Sitzenbleiben meines Erachtens ein bisschen anders. Wenn man in einem Hauptfach zwei 5 besitzt, wird man nicht versetzt. Hat man eine 5 im Hauptfach, kann diese mit einer 3 ausgleichen und kann einen Notendurchschnitt von 3,0 vorweisen, darf die nächste Klassenstufe besuchen. Mit einer 5 im Hauptfach und einem Ausgleich mit einer 3 und einem Notendurchschnitt von 3,1 darf man die Klasse wiederholen. Jedenfalls war das zu meiner Zeit (2005) noch üblich (Gymnasium). Das am Rande.

    Meiner Meinung nach haben Sie recht, dass die Politik und die Gesellschaft das Abitur nicht als Maß aller Dinge hinstellen sollte und das man mit der Haupt/Realschulreife beruflich mehr erreichen sollte, als es jetzt der Fall ist.

    Aber unser Schulsystem ist nicht für alle da.Leider. Deswegen werden Privat- und Waldorfschulen, die den anthroposophischen Weg gehen, immer beliebter. Muss ja was dran sein. Sitzenbleiben finde ich nicht schön. Die Schüler machen da schon einiges mit. Kann ich eine Geschichte von erzählen. ;) Ich bin kein Weltverbesserer. Trotzdem möchte ich einen kleinen Denkanstoß mit Ihnen teilen. Wie wäre es denn, wenn man A,B,C – Kurse, die es auf meiner damaligen Realschule bis zur 7ten Klasse gab, wo man je nach ausgewogener Beobachtung durch Lehrkräfte und Selbsteinschätzung der Schüler und Einbeziehung der Eltern, den jeweiligen Kurs besucht und während den Jahrgängen 5-9 frei entscheiden kann, welches Leistungsniveau denn jetzt angemessen sei. Die Übergänge sollten relativ flüssig sein. Wie das ganze aussehen soll… keine Ahnung. :D

    Bevor das Kapitel Sitzenbleiben bearbeitet werden sollte, könnte man sich vielleicht ein Bildungssystem überlegen, was einheitlich zwischen den Bundesländern besteht. Gab es schon mal (DDR). Ja ja hat alles nicht funktioniert… manches vielleicht doch? Und was ist mit Pisa? Und Finnland?

    Ich freue mich über einen regen Austausch mit Ihnen.

    Mit freundlichen Grüßen
    Peter Mann

    manuskriptblog.wordpress.de

    • 3. März 2013 um 10:55 Uhr
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      Prinzipiell haben wir so ein A/B/C-System doch auch jetzt schon. In NRW gehen alle Kinder bis zur 4. Klasse in die Grundschule, danach wird die Entscheidung getroffen, ob es auf der Haupt- oder der Realschule oder auf dem Gymnasium weiter geht. (Die Gesamtschule lasse ich jetzt mal dabei raus, da hat man ja A/B/C unter einem Dach. Inwiefern das wirklich förderlich ist, scheint mir zumindest noch zu beweisen zu sein).

      Das heißt, es gibt die A, B und C – Schule. Wer im Laufe der Zeit merkt, dass er das Zeug hat, das Abitur abzulegen, der kann ja die Schulform wechseln.

      Ich habe gerade in einer Klasse 8 einen Schüler, der genau diese Lernbiografie hinter sich hat. Nach der Grundschule ist er in die Realschule gegangen, da seine Leistungen in der Grundschule im Mittelfeld lagen, unter anderem auch dadurch bedingt, dass Deutsch nicht seine Muttersprache ist und er sprachlich einfach noch nicht fit genug war. In den Jahrgängen 5, 6 und 7 auf der Realschule hat sich das gebessert, er gehörte in der Realschule zu den besten Schülern und er ist dann, Anfang der Klasse 8, ans Gymnasium gewechselt. Dort macht er seine Sache jetzt wirklich gut.

      Eigentlich haben wir also bereits ein durchlässiges Schulsystem, das es jedem ermöglicht, zum Abitur zu kommen (wobei ich nach wie vor nicht glaube, dass jeder ein Abitur haben MUSS). Wir müssten meiner Meinung nach endlich davon wegkommen, zu glauben, dass nur der Weg Grundschule -> Gymnasium -> Abitur -> Studium zu glücklichen Menschen führt.

      Was übrigens Finnland angeht:
      Ich hatte mehrfach die Chance, mit Kollegen aus Finnland zu sprechen – natürlich haben wir uns dabei auch über Pisa und die Folgen unterhalten. Die finnischen Kollegen waren einhellig der Meinung, dass:

      a) in Finnland der Lehrerberuf so hoch angesehen ist, dass dort nur die besten eines Jahrgangs Lehrer werden (dürfen) und Lehrer dort nicht, wie hier häufig zu beobachten, als faule und unfähige Halbtagsjobber gelten

      b) die Klassen in Finnland weit kleiner sind als in Deutschland und man schon daher jeden einzelnen Schüler viel besser im Blick hat. Kleiner Klassen kosten aber natürlich mehr Geld.

      c) die finnischen Lehrer ihren Schülern, ich zitiere, „nicht alles so hinterhertragen wie ihr das hier macht“.

      d) Schule in Finnland, auch hier zitiere ich, „sehr viel strengere Regeln hat, als hier bei euch, wo Schüler irgendwie alles dürfen“.

      Leider schaut die Bildungspolitik immer nur auf einzelne Aspekte des finnischen Schulsystems (Förder- und Unterstützungskurse), lässt andere Aspekte (wie die oben genannten) aber völlig aus dem Blick.

      Man kann nur leider keinen Porsche aus einem Fiat Panda machen, indem man lediglich die Räder des Porsches an den Panda flanscht. Das aber tun wir derzeit. Wir flanschen jede Menge Bauteile aus anderen Schulsystemen an das unsrige dran, ohne mal grundsätzlich das Chassis und/oder den Motor in Angriff zu nehmen. Das wird auf Dauer wahrscheinlich nicht dazu führen, dass unser Panda ein Rennauto wird.

      • 3. März 2013 um 14:26 Uhr
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        Danke für Ihren Beitrag.

        Mir ist aufgefallen, das wir alle, die hier kommentiert haben, schrieben, „bei uns ist das so und so“. Liegt da nicht schon das Problem? Ihre Meinung zu einem einheitlichen Bildungssystem hätte ich gerne noch. Oder habe ich dies oben überlesen?

        Mit freundlichen Grüßen
        Peter Mann

        manuskriptblog.wordpress.de

        • 4. März 2013 um 09:39 Uhr
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          Aus meiner Sicht hätte aus nur Vorteile, wenn wir endlich ein länderübergreifend identisches Schulsystem hätten.

  • 1. März 2013 um 06:47 Uhr
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    Ich bin wahrlich kein Verfechter des Nicht-Sitzenbleibens, das ist in Hamburg aber inzwischen bis Kl. 9 hochgewachsen. Bei uns scheint im Gegensatz zum Artikel das Sitzenbleiben viel leichter gewesen zu sein: eine 5 musste man durch 2 Dreien oder eine 2 ausgleichen, aber das nur am Rande. Das System wird m.E. falsch widergegeben (jjedenfalls lauft es in hamburg anders). Nach Kl. 6 am Gymnasium muss man einen bestimmten Notenschnitt schaffen, um auf dem Gymnasium bleiben zu dürfen (keine 5 in Ma, Deu, Eng), max zwei Noten schlechter als 4 in den anderen Fächern und ein Schnitt von 4 in diesen anderen Fächern.
    Wer weiter darf, bekommt nicht automatisch das Abitur, wie es im Artikel immer wieder implizit anklngt. Am Ende von Kl. 9 wird man zwar nach 10 versetzt, hat aber unternUmständen keien Schulabschluss- dafür sind bestimmte Noten nötig. Die Versetzung in die Studienstufe hat dieselben Versetzungsbestimmungen wie schon immer. Ich kann hier nicht erkennen, dass jeder sein Abitur erlangt. Das ist falsch.

  • 1. März 2013 um 07:03 Uhr
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    @Johannes
    Ich habe den Abschnitt mit den Angaben, wann man in NRW wie sitzen bleiben kann, aktualisiert, das war in der ersten Version des Artikels nicht gut und klar dargestellt. Dass das von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich ist: Ja, das ist so. Natürlich bekommt man auch in NRW noch nicht automatisch das Abitur. Aber es wird zunehmend erschwert, es NICHT zu bekommen ;-) Dazu empfehle ich den Artikel aus der WiWo zu lesen, der das sehr gut darstellt:

    http://www.wiwo.de/erfolg/campus-mba/bildung-die-inflation-des-abiturs-seite-all/7652312-all.html

    Daraus nur ein kleines Zitat:
    „Beispiel Nordrhein-Westfalen: Es war nur wenigen Medien eine kurze Nachricht wert, dass sich in Nordrhein-Westfalen nicht nur die absolute Zahl der Abiturienten erhöht, sondern dass sich in den vergangenen Jahren auch die Noten dieser Abiturienten sehr stark verbessert haben. 2002 lag die Durchschnittsabiturnote noch bei 2,68, während sie im vergangenen Jahr bei 2,5 lag. Die Zahl der Abiturienten mit einem glatten Einser-Schnitt (1,0) stieg in den letzten fünf Jahren um sagenhafte 120 Prozent auf genau 1000 Schüler.“

    @Peter
    Ich habe heute ganztägig eine Prüfung abzunehmen, Antwort auf Deinen Kommentar und Deine Idee folgt – aber vielleicht erst im Laufe des Wochenendes.

  • 1. März 2013 um 07:40 Uhr
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    Will eigentlich nur beipflichten. In Bayern ist das ähnlich wie in NRW, mit Unterschieden im Detail. (Kein Notenausgleich, aber Nachprüfung möglich.)

    Wie es weitergeht: Man kann entweder den spezifisch gymnasialen Anspruch weiter abschwächen, bis man die Gesamtschule hat. Oder man kann die anderen Schularten und -abschlüsse attraktiver machen. Da weiß ich nicht, wie das gehen soll. Oder man kann alternative Wege zum Abitur (oder zur Fachhochschulreife) populärer machen, von denen es viele gibt.

    • 3. März 2013 um 11:00 Uhr
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      Nachprüfungen gibt es bei uns natürlich auch noch. Noch ein Faktor, der Sitzenbleiben wirklich, wirklich schwer macht. Wer in NRW sitzen bleibt, ist wirklich nicht der arme Schüler mit spezifischer Schwäche nur in einem einzelnen Fach.

      Davon ab:
      Ich würde mich sehr freuen, wenn wir es wieder schaffen würden, den verschiedenen Schulformen (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) wieder ein Gesicht zu geben. Und wenn wir uns wieder daran erinnerten, dass unser Schulsystem nach oben wie nach unten durchlässig angelegt ist. In anderen Bereichen akzeptieren wir doch auch, dass es Regionalligisten, Kreisligisten und Bundesligisten gibt. Übergänge sind möglich. Wenn man das Zeug dazu hat.

  • 1. März 2013 um 17:42 Uhr
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    Ich finde den Blogeintrag sehr gelungen und würde fast überall beipflichten.
    Aus Sicht einer Grundschullehrerin möchte ich noch zwei Punkte ergänzen.
    1. Wenn man ständig das Zauberwort „Individualisierung“ benutzt, sollte man auch dabei berücksichtigen, dass die Kinder auch sehr individuell viel oder wenig Zeit benötigen, um etwas zu lernen. Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Und wenn man ein Kind, welches halt nun mal sehr viel langsamer als andere seine kleinen Fortschritte macht, mit aller Gewalt versucht in derselben Zeit zu denselben Zielen zu führen, wird man in den meisten Fällen nicht erreichen, dass es die Ziele tatsächlich schneller erreicht, sondern läuft Gefahr, dass es dermaßen überfördert wird, dass es jeder Lust am Lernen verliert.

    2.Selbst wenn man so ein Kind in einer jahrgangsbezogenen Klasse individuell auf seinem Niveau arbeiten lässt und fördert, ist gut abzuwägen, ob es dem Kind damit wirklich besser geht, als wenn es die Klasse wechseln müsste. Klar, so ein Wechsel ist für die allermeisten Kinder sicher nicht schön. Aber ist es schön, täglich vor Augen zu haben, dass der Großteil der anderen Kinder, die mit einem gleichzeitig eingeschult wurden, meist mit deutlich weniger Aufwand viel bessere Ergebnisse erzielen?
    Die Vorschulen bzw. Schulkindergärten sind zu Beginn meiner Laufbahn in NRW mit ganz ähnlichen Argumenten abgeschafft worden. Es sollten keine Kinder mehr die Schmach ertragen, wieder „ausgeschult“ zu werden. Die Kinder sollten nicht mehr „schulreif“, sondern die Grundschulen vielmehr „kindgerecht“ sein. Auch hierbei hat das Sparargument sicher einiges beigetragen. Zu allem Überfluss hat man auch noch den Stichtag für die Einschulung nach und nach vorverlegt. Im Ergebnis hatte ich diese Jahr zu Beginn des ersten Schuljahres:
    sieben Kinder, die noch nicht einmal sechs Jahre alt waren
    sechs Kinder, für die selbst das kleinste vorhandene Mobiliar zu groß war
    zwölf Kinder, die sich trotz unzähliger Bewegungspausen spätestens nach der dritten Stunde nicht mehr konzentrieren können
    acht Kinder, deren Feinmotorik bei weitem noch nicht so weit entwickelt ist, dass sie den Schreibübungen auch nur annähernd gewachsen wären
    und, was ich am schlimmsten finde, vier Kinder, die nicht das allerkleinste Interesse hatten, lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Diese Kinder hätten viel lieber mit Bauklötzen, Legos oder Eisenbahnen gespielt, sich im Rollenspiel ausgelebt, draußen im Sand gebudellt, als sich mit den Dingen zu befassen, die im ersten Schuljahr nun mal dran sind. Da versuche ich nun in einer täglichen Gratwanderung, diese Kinder – möglichst ohne Sitzenbleiben natürlich! – durch die Grundschulzeit zu schleusen, ihnen, wie es 100% ihrer Eltern erwarten, am Ende guten Gewissens bescheinigen zu können, dass sie für das Gymnasium geeignet sind, ihnen aber andererseits nicht schon im ersten Schuljahr jegliche Freude am Lernen und an Schule zu verderben, indem ich sie ständig zu Dingen „zwinge“, die sie eigentlich noch gar nicht können und wollen.

    SaWie

  • 2. März 2013 um 17:54 Uhr
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    Ich stimme Ihren Ausführungen im Wesentlichen bei. Im Kontext der Initiativen von Prof. G. Hüther, einem mittlerweile sehr bekannten Göttinger Neurobiologen, habe ich mich nach einem im Fernsehen ausgestrahlten philosophischen Gespräch mit R.D. Precht zu einem Blogbeitrag hinreißen lassen, der sich ebenfalls mit der Frage „Abitur für alle“ beschäftigt:
    http://www.stephan-diedrich.de/precht-huther-und-viele-viele-abiturienten/
    Wie müssen sich Haupt- und Realschüler fühlen, die sich Tag für Tag anhören müssen, dass das Abitur den einzig akzeptablen Schulabschluss darstellt? Dies stellt in meinen Augen ebenfalls eine Diskriminierung dar. Gerade die Vielfältigkeit der Schullaufbahnen (Berufsschulen, Fachoberschulen, Fachhochschulen usw.) in Deutschland macht die Stärke unseres Schulsystems (trotz der verteufelten Dreigliedrigkeit?) aus.
    Worüber ich mich etwas wundere, aber noch viel mehr freue: Dass ein Schulmusiker einen derart politischen und streitbaren Blogartikel publiziert. Vielen Dank dafür!

    • 3. März 2013 um 10:34 Uhr
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      Du sprichst mir aus der Seele, was die Frage angeht, wie sich eigentlich ein Haupt- oder Realschüler fühlen muss. Ich würde mich freuen, wenn wir es endlich hinbekämen, zu akzeptieren, dass Menschen unterschiedlich begabt sind und dass diese unterschiedlichen Begabungen eben auch in unterschiedlichen Schulabschlüssen resultieren dürfen. Zurzeit tun wir so, als ob es vollkommen egal sei, in welchen Bereichen die Begabungen unserer Kinder liegen – mit entsprechednen Förderkursen, Unterstützungsangeboten in Nachmittagsbereich, Aufweichungen der Kriterien und, und, und machen wir alle zu Abiturienten. Meiner Meinung nach wird das weder dem Abitur noch den Kindern gerecht.

      Warum aber wundert es Dich, dass ein Schulmusiker diesen Beitrag veröffentlicht? Ich finde, es ist doch meine Pflicht, mich mit dem Schulsystem, in dem ich arbeite, auseinanderzusetzen und auch einmal zu schauen, ob es nicht Alternativen zur momentanen Bildungspolitik gibt. Streiken darf ich ja nicht. Aber nachdenken über das System, das muss doch erlaubt sein.

      • 14. März 2013 um 18:01 Uhr
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        Was mich daran wundert? Das weiß ich selbst nicht so genau, ich hatte nur den Eindruck, dass die überwiegende Anzahl bloggender Lehrer entweder den Sprachen, den gesellschaftlichen Fächern oder dem MINT-Bereich angehört.

  • Pingback:Sitzenbleiben – gar nicht einfach

  • Pingback:Precht, Hüther und viele, viele Abiturienten | Leerplan

  • 5. März 2013 um 19:32 Uhr
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    Bitte lesen Sie die Studie von John Hattie: „Visible Learning“ Sitzenbleiben ist unnütz und bringt den Schülern nichts. Was ich an der Studie so herzerfrischend finde ist seine empierische Grundlage. Da gibt es wenig zu diskutieren. Sitzenbleiben bringt keine Verbesserung der Schülersituation. Punkt.

    • 5. März 2013 um 19:34 Uhr
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      sorry empirisch ohne e. auf dem ipad schreibt es sich nicht so flüssig.

    • 5. März 2013 um 19:54 Uhr
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      Komisch, dass so viele Schüler, die das Jahr wiederholen, es danach dann schaffen. Was sagt Hattie dazu? Und was sagt er zu denen, die – aus eigener Erfahrung berichtend – für sich das Pappenbleiben als sinnvoll ansehen? Fragezeichen.

      • 5. März 2013 um 20:13 Uhr
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        Er sagt, dass es keine signifikanten, nachweislichen Effekte gibt, die das Sitzenbleiben rechtfertigen. Eher negative Effekte. Und er kann es beweisen. Es geht hier nicht um Gefühle. Frage: worauf stützen sich die Annahmen, dass es ihnen besser geht nachdem sie sitzen geblieben sind? Die Studie ist hier eindeutig. 250.000.000 SuS haben an die Studie mit Daren gefüttert.

        • 5. März 2013 um 20:14 Uhr
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          mit Daten. (also gleich besorg ich mir ne Tastatur)

        • 5. März 2013 um 20:18 Uhr
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          Es ist ja nicht verboten ein Jahr zu wiederholen, wenn jemand das möchte. In Bayern geht sowas hab ich gelesen. Coole Idee.

        • 5. März 2013 um 20:32 Uhr
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          Ich kann hier nur aus meiner Praxis berichten. In der haben die extrem wenigen(!) SuS, die überhaupt je sitzen geblieben sind, den Abschluss der Klasse nach der Wiederholung geschafft. Ob und wie es den SuS während der Wiederholung „besser“ (wie ist das definiert?) geht, kann ich aber natürlich nicht sagen. Ich behaupte aber, dass das Gefühl, „es geschafft“ zu haben, ein gutes Gefühl ist.

          Da die 250.000.000 SuS der Hattie-Studie nicht alle aus NRW kommen, muss hier sicher auch noch differenziert werden. Da wir festgestellt haben, dass Sitzenbleiben in NRW nicht gleich Sitzenbleiben in Bayern und schon gar nicht gleich Sitzenbleiben in Timbuktu ist, wäre ich mit generalisierenden Aussagen in beide Richtungen(!) vorsichtig.

          Davon abgesehen: Wie sieht das Alternativkonzept aus? Es scheint mir leicht, Sitzenbleiben abzulehnen. Doch wie sieht die Lösung des Umstandes aus, dass es SuS gibt, deren Leistungen in mehreren Fächern nicht den definierten Standards genügen und die dem fortschreitenden Unterricht daher nicht werden folgen können? Was soll mit diesen SuS geschehen? Oder wie soll ein Bildungssystem aussehen, das auf das Setzen solcher Standards verzichtet? Kann das funktionieren? Wie? Mit wie viel Personal? Wo ist es, das ideale Schulsystem? Und warum haben wir das nicht schon längst?

          • 5. März 2013 um 20:44 Uhr
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            Ich geb auf. Danke für die vielen Worte. Soviel kann ich nicht schreiben. Aber es gibt viele, sehr viele Alternativen zum Schulsystem.

  • Pingback:Der alte Grabenkrieg … | Musik in der Schule

    • 6. März 2013 um 14:59 Uhr
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      Wenn Du mich nochmal „alt“ nennst, lösche ich Dein Blog. Und du weißt, dass ich das kann ;-) ;-P

      • 6. März 2013 um 16:44 Uhr
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        … schlimmer! Ich weiß sogar, dass Du das tun würdest! ;-)

        • 6. März 2013 um 17:39 Uhr
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          Und Du bist _trotzdem_ mit mir befreundet? Gefahrensucher, was? ;-) :-p

    • 7. März 2013 um 20:04 Uhr
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      Und da kannst Du Dich auf den Kopf stellen und mit den Ohren wackeln – das lässt sich pauschal so nicht behaupten.

      Tamensi movetur!

  • 20. März 2013 um 11:34 Uhr
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    Auf die Gefahr hin, mich hier massiv unbeliebt zu machen, drängt sich nach der Lektüre des obenstehenden Textes doch ein Einwurf in Frageform auf:

    Wo, lieber Herr Dorok, sehen Sie in der Frage des Sitzenbleibens eigentlich Ihre ganz persönliche Verantwortung als Lehrer? Ich meine das nicht nur in der Begegnungs-/Bewertungssituation mit dem Schüler selber, sondern auch in Ihrer Rolle als mittelbar gestaltender Widerpart der Behörden und Institutionen. Bekommen Sie denn als Lehrkraft tatsächlich nur wechselndes Schülermaterial von variabler Qualität vorgesetzt, das Sie nach objektive Kriterien einer sachgerechten Beurteilung zuzuführen haben? Und haben Sie sich bei der Erörterung solcher Fragen schon mal mit Ansätzen befasst, die in Richtung der Metaanalyse von John Hattie weisen?

    • 20. März 2013 um 13:13 Uhr
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      Lieber Herr Dipl.-Psych. Krebs,

      ich sehe meine ganz persönliche Verantwortung als Lehrer darin, jeden Schüler nach seinen Fähigkeiten zu fördern und ihm alle Möglichkeiten zu geben, das von ihm angestrebte Ergebnis zu erreichen. Wie Sie dem Text entnehmen können, gibt es eine Vielzahl an Unterstützungsmaßnahmen, die verhindern sollen, dass es überhaupt zum Sitzenbleiben kommt. Aber es sind natürliche Grenzen gesetzt. Ich bekomme tatsächlich „wechselndes Schülermaterial von variabler Qualität vorgesetzt“, das ich am Ende nach objektiven Kriterien zu bewerten habe. Denn wir leben nicht in einem Wunsch- und Traumland sondern in einem, in dem es ein Zentralabitur gibt und zentrale Prüfungen und Lehrpläne. Es ist ja nicht so, dass wir Lehrer nach Gutdünken entscheiden „der Schüler passt uns nicht, den lassen wir mal aus Bosheit sitzen“

      Wir versuchen vielmehr, jeden Schüler nach seinen Möglichkeiten zu unterstützen – was für vielfältige Möglichkeiten wir dazu einsetzen, ist im Artikel und auch den Kommentaren dazu dokumentiert.

      Sie kennen sicherlich die Karikatur, in der ein Bär, ein Hund, eine Schlange und ein Fisch vor einem Baum stehen. Die Aufgabe lautet: „Besteigen sie den Baum“. Dieses Bild wird gerne genommen, um auf individuelle Förderung aufmerksam zu machen, auf Möglichkeiten der gegenseitigen Unterstützung, etc. Das ist natürlich gut und richtig so. Aber es muss erlaubt sein zu fragen, was der Fisch denn überhaupt auf dem Baum soll?

  • 22. Mai 2013 um 20:37 Uhr
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    Ich bin in der 9 nicht sitzengeblieben. Eine 4-, eine 3, ansonsten 4, 4, … 4. Ursache unter anderem war eine „persönliche Krise“, infolge derer ich zwei grippale Infekte zu jeweils drei Wochen Fehlzeit ausgebaut hatte. Ja, ich hätte in die 10 gedurft. Ich wollte aber nicht.

    Die 9 freiwillig zu wiederholen war eine gute Entscheidung. Die Erfolgserlebnisse, die ich dabei hatte, haben mir gutgetan. Ich habe meine Schulkarriere mit einem guten Abitur abschließen können, eine gute Ausbildung machen dürfen und insgesamt vermutlich ein besseres Leben erreicht, als wenn ich mich mit Ach und Krach durch die 10 gekämpft hätte.

    Ich finde Sitzenbleiben prinzipiell nicht schlimm. Es kann auch eine Chance bedeuten.

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